Der Schuster im Wartesaal

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Der Schuster im Wartesaal

Aus dem Briloner Heimatbuch, Band V, Seite 50..
Ein Döneken aus Brilon-Wald von Willy Otto, nacherzählt von Friedhelm Schumacher.


Am Bahnhof in Brilon-Wald hat es sicherlich schon so manche erzählenswerte Begegnung gegeben. Abschieds- und Freudentränen haben die Bahnsteige ebenso schon gesehen wie politische Größen und gekrönte Häupter, die diese wichtige Verbindungsstrecke durch das Ruhrtal befuhren. Hier sei nur Kaiser Wilhelm II. genannt, der 1897 nach einem Besuch der Familie Krupp in ihrer Villa Hügel in Essen auf dem Wege nach Kassel durch Brilon-Wald kam.
Manchmal sind es aber auch nur die kleinen Begebenheiten am Rande, die sich von Generation zu Generation weitertragen. Die Bahnhofsgaststätte muss als neuralgischer Ort dieses wichtigen Eisenbahnknotenpunktes im Sauerland angesehen werden, übte sie doch sowohl auf Einheimische als auch auf Fremde eine magische Anziehungskraft aus. Das erkannte auch Johannes Gruß, dessen Gasthof auf der Lohmühle als "Musterwirtschaft" weit und breit bekannt war. 1871 schon wurde im Sauerländer Anzeiger eine "Fußtour" zum Eisenbahnbau und zur Wirtschaft Gruß empfohlen. Nun übernahm er 1873 auch die Restauration im Bahnhof Brilon-Wald. "Vater Gruß" oder "Loh-Hennes", wie er überall genannt wurde, erkannte die Zeichen der Zeit. Er schlug als Inhaber beider lokale zwei Fliegen mit einer Klappe und versah das Büfett seines Bahnhofsrestaurants mit einer hübschen Kellnerin, die nicht aus der Stadt, sondern aus dem Sauerland selbst kam. Dieser Umstand trug dazu bei, dass die Gaststätte ein beliebter Treffpunkt wurde.

Als segensreiche Auswirkung der neu entstandenen Anlagen der Bahn kam es 1880 zur Gründung der Degussa und zu einer raschen Bevölkerungsentwicklung in Brilon-Wald. Es waren gleichsam die "wilden" Jahre angebrochen. Zwar lockte kein Gold die Menschen nach Brilon-Wald wie zur gleichen Zeit in Amerika, aber die Hoffnung auf Beschäftigung ließ viele hier sesshaft werden. Die meisten wohnten hier im rauhen Hoppecketal in Barackenunterkünften, aber es gab Arbeit und einen kleinen Verdienst in dieser Waldeinsamkeit. Ein wenig Abwechslung bot lediglich die Bahnhofskneipe, die nun von dem Pächter Fritz Wiepen betrieben wurde.
Hier kam es, wie schon erwähnt, im Laufe der Jahre zu manch wunderlicher Begebenheit. Vor allem die Jugend zog es an Wiepens Tresen, doch war - wie so oft - der Durst größer, als der Inhalt der Geldbörsen es zuließ. Leichtes Spiel also für den ortsansässigen Bauunternehmer Fahle, vier jungen Burschen, die eines Abends die Bahnhofswirtschaft betraten, einen Auftrag zu erteilen. "Holt mir den Schuster! " ließ es sich in einem rüden Befehlston vernehmen. Gleichzeitig war das ein Zeichen für den Wirt, die Luft aus den Gläsern zu lassen.

Der Schuster, nicht weit vom Bahnhof ansässig, war ein braver Mann. Flickarbeiten aller Art standen auf seinem Arbeitsprogramm. Schüler ließen ihren Ranzen bei ihm ausbessern, zerrissene Pferdehalfter wurden erneuert und alte Schuhe neu besohlt. Kurzum der Schuster war ein stets gefragter Handwerker. Er wusste aber auch bei der Bezahlung zu unterscheiden. Wer auf großem Fuße lebte und viel Geld verdiente, musste folglich auch tiefer in die Tasche greifen. Dies gefiel dem Baumeister Fahle ganz und gar nicht. Seine letzte Schuhreparatur erschien ihm weitaus zu teuer, und somit sann er auf Rache. Die vier Burschen widersprachen seinem Ansinnen kaum, ahnten sie doch einen preisgünstigen Abend voraus. Ein Wort gab das andere, immer wieder musste gegenseitige Überzeugungsarbeit geleistet werden. Spät war es schon, und die Gäste hatten sich bereits nach Hause begeben, als die vier sich nach Einnahme diverser Naturalien auf den Weg machten.

Die Wohnung des Schusters war verschlossen, doch ließ sich die Tür leicht mit einem Dietrich öffnen, von dem niemand mehr wusste, woher er kam. Den braven Schuster fand man schlafend, und dies schien unseren Eindringlingen auch der beste Zustand zu sein, um ihn zu transportieren. Der samstägliche Bummel durch die Brilon-Walder Kneipenwelt hatte auch den Schuster müde gemacht und ließ ihn nun von besseren Flickzeiten träumen.

Wie auf dem Gang zum Schnadestein transportierten die vier ihn aus dem Zimmer, um ihn dann auf einer Liege nach draußen zu bringen und den Weg zum Bahnhof anzutreten.
Das alles geschah mit einer erstaunlichen Leichtigkeit. Ein Zusammenspiel der vier wie es nur an solchen Samstagabenden passieren konnte! Der Transport gelang vorschriftsmäßig. Man sah jetzt um diese mitternächtliche Stunde sogar davon ab, den Schuster mitsamt Liege in den Zug nach Korbach zu verfrachten, wie es ursprünglich geplant war. Glücklicherweise verkehrte dieser am Samstag nicht! Dafür musste der Wartesaal 4. Klasse herhalten. Der Schuster, süß träumend, wurde hinter die Theke gestellt. Die Transportkolonne betrachtete somit ihren Auftrag als erledigt an. Die Gegenleistung zu Fahles Spendieraktion war erbracht. Man brauchte sich keine Vorwürfe zu machen, und schließlich blieb der Schuster ja auch im Dorfe! Froh gelaunt traten die Burschen den Heimweg an.

Doch wie erging es unserem Schuster? Der schlief den Schlaf der Gerechten bis zum frühen Morgen. Das Dienstmädchen bekam natürlich einen gehörigen Schrecken, da ein regloser Mann hinter der Theke Schlimmeres vermuten ließ. Um zu testen, ob noch Leben in ihm steckte, goss sie in einer Art Reflexhandlung den Eimer mit dem kalten Putzwasser über des Schusters nackte Füße. Welch ein Schock! Der Mann schreckte hoch, sah sich verdattert um, wurde wild in Anbetracht der fremden, wenn auch nicht ganz unbekannten Umgebung und begann wie ein Rohrspatz zu schimpfen. Die nichtsahnende Bedienung hatte alle Lebensgeister geweckt und bekam den ganzen Zorn zu spüren. In ihrer Not verkroch sie sich im hintersten Wartesaalwinkel. Wie ein wilder Stier flüchtete der Mann unter Morddrohungen ohne Schuhe und Strümpfe aus dem Lokal. Die nackten Füße auf dem kalten Pflaster des Bahnhofsvorplatzes erzürnten ihn weiter, denn das gebührte doch einem Manne seiner Zunft überhaupt nicht. War das noch unser sonst so friedlicher Schuster?

Zu solch früher Stunde, es war etwa 7 Uhr, gingen die ersten Leute zur Frühmesse und stellten sich eben diese Frage. Sie sahen einen sonst braven Menschen wild gestikulierend, ein Luftgewehr in der Hand schwenkend, aus seinem Hause laufen. Was war nur in diesen Mann gefahren? Der sonntägliche Friede in Brilon-Wald war gestört. Beim Frühschoppen sprachen sich die Ereignisse schnell herum, und man kam auch der Wahrheit ein gutes Stück näher.

Als Schuldige waren auch die vier jungen Männer rasch ausgemacht, die nicht ahnten, dass das Vorkommnis solche Wellen im Dorfe schlug. Was gab es zu verbergen? Reuevoll wurde die ganze Story ausgebreitet.
Auch die Rachegelüste des Schusters verflogen, eine Anzeige aber musste dennoch her. Schließlich galt es ja, seine Ehre wiederherzustellen. Sie nahte in Person des Polizeimeisters Föckeler aus Brilon. Dieser nahm den nächtlichen Hergang zu Protokoll. Als Zeuge wurde vernommen: Ein Schuster, der sich an nichts mehr erinnerte! Zur Entspannung der Lage musste eine schnelle Entscheidung herbei, das wusste schon damals die Polizei. Die vier jungen Männer bekamen ihr Strafmandat. 5 Reichsmark waren für jeden viel Geld. Doch auch hier wurde eine Lösung gefunden. Wer hatte außerordentliches Mitleid: Natürlich Baumeister Fahle!
Mit diebischer Freude kaufte er die Strafzettel auf und hatte so einen immerwährenden Beweis seiner "Rache". Doch halt! Ein Original blieb im Besitz des Erzählers unseres Dönekens, das von Generation zu Generation schmunzelnd weitererzählt wird.

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